Hohlbein, Wolfgang Nemesis 1 Die Zeit Vor Mitternacht 

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Was ich im Licht der schwachen Glühbirne sah, die
daraufhin unter der Decke aufleuchtete, war in der Tat eine
Überraschung; aber ich hätte nicht sagen können, ob sie
wirklich unangenehm war. Das Zimmer war tatsächlich
kaum breiter als ein sechstüriger Kleiderschrank, aber dafür
so lang, dass man einen Lear-Jet darin hätte parken können:
ein schmaler Schlauch, der bequem Platz für einen Schrank,
ein Bett und einen Schreibtisch samt dazugehörigem Stuhl
und Bücherregal bot, die allerdings hintereinander aufge-
reiht waren, und alle an der gleichen Wand, was den An-
blick irgendwie noch bizarrer werden ließ. Um das Maß
voll zu machen, war der Raum in den vorderen beiden
Dritteln mindestens drei Meter hoch, wenn nicht mehr,
während die Decke weiter hinten in eine holzvertäfelte
Schräge überging. In der Mitte dieser Schräge befand sich
ein schmales, vergittertes Fenster, das wahrscheinlich selbst
an einem wolkenlosen Hochsommernachmittag kein nen-
nenswertes Licht hereinließ. Der Anblick war so unwirk-
lich, dass ich einen Momentlang ernsthaft überlegte,
kehrtzumachen und mir eines der anderen Zimmer zu
sichern, bevor es zu spät war. Aber dann zog ich die Tür
mit einer entschlossenen Bewegung hinter mir ins Schloss
und machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein.
Vermutlich war es bereits zu spät und mit ziemlicher
Sicherheit sahen die anderen Zimmer auch nicht anders aus.
Was hatte Carl gerade gesagt? Das hier war eine Schule,
kein Luxushotel? Wie Recht er doch hatte ...
Immerhin war das Bett frisch bezogen, und die Luft roch
nicht annähernd so muffig, wie man es angesichts des un-
übersehbaren Alters dieses Raumes und seiner Einrichtung
hätte erwarten können. Ich betrachtete meine Lagerstatt für
diese Nacht einige Sekunden lang missmutig  irgendwie
fand ich die Vorstellung wenig erhebend, in einem Bett
nächtigen zu müssen, das zum letzten Mal vor zwanzig
Jahren benutzt worden war, und das vermutlich von einem
pubertierenden Internatszögling, der ganz bestimmt nicht
die ganze Nacht brav die Hände auf der Bettdecke gefaltet
hatte, aber dann wurde mir klar, wie albern dieser Gedanke
war. Ich hatte schon an weitaus schlimmeren Orten ge-
schlafen. Und mit ein bisschen Glück würde es nicht mehr
allzu lange dauern und ich konnte mir ein Luxushotel
kaufen. Samt der dazugehörigen, garantiert unbenutzten
Betten.
Obwohl ich plötzlich spürte, wie müde ich war, legte ich
mich noch nicht hin, sondern begann mit einer kurzen
Inspektion des Zimmers. Der Kleiderschrank  wie das
Bett, der Schreibtisch und das Bücherregal ein schweres,
geschnitztes Möbelstück, an dem die Zeit zwar unüber-
sehbare Spuren hinterlassen hatte, das aber trotzdem die
Augen jedes Antiquitätenhändlers zum Leuchten gebracht
hätte  war leer, und dasselbe galt für den Schreibtisch,
dessen Schubladen ich eine nach der anderen aufzog, aber
das Bücherregal war noch zur Hälfte gefüllt. Ein flüchtiger
Blick über die verblassten Buchrücken zeigte mir, dass es
sich größtenteils um Schulbücher handelte. Die meisten
waren mir unbekannt, und eine überraschend große Anzahl
der Titel war in Englisch abgefasst, was mir allerdings erst
auf den zweiten Blick auffiel; die Jahre, die ich in den USA
verbracht hatte, hatten dazu geführt, dass ich vermutlich
eher Schwierigkeiten haben würde, Bücher in meiner
Muttersprache zu lesen. Ich zog den einen oder anderen
Band heraus und blätterte darin, ohne wirklich zu lesen.
Der vertraute Geruch von altem Papier stieg mir in die Nase
und mit ihm flüchtige Bilder und noch flüchtigere Geräu-
sche: eine ganz Horde von Schülern in blauschwarzen
Jacken und gleichfarbigen Kniehosen, die alle den Sekun-
denbruchteil nach dem Schrillen der Glocke nutzten, um
aufzuspringen und den Klassenraum zu verlassen (und das
selbstverständlich gleichzeitig), krakelige Kreidestriche auf
einer verschrammten Schiefertafel, das Lärmen der Schüler
unten auf dem Hof, das Knarren von Schritten auf den
ausgetretenen Dielen der Treppe, die gedämpften Stimmen
der anderen, die durch die dünnen Trennwände aus Sperr-
holz drangen ...
Ich ließ das Buch mit einem so heftigen Knall in der
Hand zuklappen, dass allein das Geräusch ausreichte, dass
ich erschrocken zusammenfuhr.
Jedenfalls redete ich mir ein, dass es das Geräusch
gewesen war ...
Mein Herz klopfte. Plötzlich spürte ich, wie kalt es hier
drinnen war und wie muffig die Luft trotz allem roch 
nein, nicht muffig. Moderig. Als wäre irgendetwas verdor-
ben und längst weggebracht worden, hätte aber einen ganz
leisen Verwesungsgeruch in den Möbeln und Wänden
hinterlassen, der nicht wirklich zu orten, aber auch nicht
wirklich zu ignorieren war. Meine Hand, die noch immer
das Buch hielt, zitterte, und trotz der Kälte konnte ich die
Stelle zwischen den Schulterblättern spüren, an denen mein
Hemd schweißnass auf der Haut klebte. Was zum Teufel
war mit mir los?
Viel hastiger, als ich es beabsichtigt hatte, stellte ich das [ Pobierz całość w formacie PDF ]

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