Coelho, Paulo Veronica beschließt zu sterben 

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ihn nicht weg: Er steckte ihn in die Tasche und wollte später
entscheiden, was er damit tun würde.
Eben aus diesem Grunde war er der Direktor einer Anstalt
und kein Kranker. Weil er nämlich lange überlegte, bis er
eine Entscheidung fällte.
Er machte Licht - denn je weiter der Winter fortschritt,
desto später wurde es Tag. Wohnungswechsel, Scheidungen
und mangelnde Helligkeit waren Hauptursachen für De-
pressionen. Dr. Igor hoffte, daß der Winter bald vorbei und
die Hälfte seiner Probleme aus der Welt geschafft wären.
Er warf einen Blick auf seinen Terminkalender. Er mußte
etwas finden, damit Eduard nicht an Unterernährung starb.
Dessen Schizophrenie machte ihn unberechenbar, jetzt hatte
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er ganz aufgehört zu essen. Dr. Igor hatte schon intravenöse
Ernährung angeordnet, doch das konnte nicht ewig so wei-
tergehen. Eduard war ein kräftiger junger Mann von 28 Jah-
ren, doch auch mit der Infusion würde er am Ende bis aufs
Skelett abmagern.
Was würde Eduards Vater sagen, einer der bekanntesten
Botschafter der jungen slowenischen Republik und einer der
führenden Köpfe bei den schwierigen Verhandlungen mit
Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre? Dieser Mann war
jahrelang jugoslawischer Beamter gewesen und hatte seine
Kritiker überlebt, die ihm vorwarfen, er diene dem Feind;
heute stand er immer noch im diplomatischen Dienst, nur
vertrat er jetzt ein anderes Land. Er war ein mächtiger, ein-
flußreicher, von allen gefürchteter Mann.
Dr. Igor beschäftigte das einen Augenblick lang - wie zuvor
der Schlüsselanhänger -, doch dann schlug er sich den
Gedanken aus dem Kopf: Dem Botschafter war es gleich-
gültig, ob sein Sohn gut oder schlecht aussah. Er hatte nicht
vor, ihn zu offiziellen Anlässen mitzunehmen oder sich von
ihm in die Teile der Welt begleiten zu lassen, in die er als
Vertreter der Regierung geschickt wurde. Eduard war in
Villete, und dort würde er immer bleiben, zumindest solange
sein Vater sein enormes Gehalt verdiente.
Dr. Igor beschloß, die intravenöse Ernährung abzusetzen.
Eduard würde noch ein wenig weiter abnehmen, bis er von
sich aus wieder essen wollte. Sollte sich die Lage ver-
schlechtern, würde er einen Bericht abfassen und den Fall
dem für Villete zuständigen Ärztegremium überantworten.
»Wenn du nicht in Schwierigkeiten geraten willst, teile immer
die Verantwortung«, hatte ihm sein Vater geraten, der
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ebenfalls Arzt war und dem mehrere Patienten gestorben
waren, ohne daß er je Schwierigkeiten mit den Behörden
bekommen hätte.
Nachdem Dr. Igor Weisung erteilt hatte, diese Behand-
lung von Eduard abzusetzen, wandte er sich dem nächsten
Fall zu. Laut Bericht war die Patientin Zedka Mendel soweit
genesen, daß sie entlassen werden konnte. Dr. Igor wollte
das mit eigenen Augen nachprüfen. Schließlich gab es nichts
Schlimmeres für einen Arzt als Beschwerden von den
Familienmitgliedern ehemaliger Patienten. Und die gab es
fast immer. Nach ihrem Aufenthalt in einer psychiatrischen
Heilanstalt gelang es nämlich nur wenigen Patienten, sich
wieder ins normale Leben einzufügen.
Das lag nicht an Villete. Auch nicht an den anderen An-
stalten sonstwo auf der Welt; das Problem der Reintegration
war überall gleich schwierig. So wie das Gefängnis den
Gefangenen nicht bessert, ihm im Gegenteil nur beibringt,
noch mehr Verbrechen zu begehen, so führen die psychia-
trischen Anstalten dazu, daß die Kranken sich an eine voll-
kommen unwirkliche Welt gewöhnen, in der alles erlaubt ist
und niemand Verantwortung für sein Tun tragen muß.
Es blieb nur ein Ausweg: selbst eine Behandlungsme-
thode zur Heilung der Geisteskrankheit zu entdecken. Dr.
Igor war dabei, eine Methode zu erarbeiten, die die Welt der
Psychiatrie revolutionieren sollte. In einer Heilanstalt
vermischten sich unheilbar Kranke mit solchen, die nur kurz
dort verblieben; letztere leiteten ein soziales Abgleiten ein,
das sich, wenn es einmal in Gang gesetzt war, nicht mehr
aufhalten ließ. Diese Zedka Mendel würde wieder ins
Krankenhaus zurückkehren. Diesmal aus freiem Willen. Sie
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würde über nicht vorhandene Krankheiten klagen, nur um
wieder in die Nähe von Menschen zu kommen, die sie besser
zu verstehen schienen als die draußen.
Wenn es ihm jedoch gelang, das Gift zu bekämpfen, das in
seinen Augen für die Verrücktheit verantwortlich war, dann
würde Dr. Igors Name in die Geschichte eingehen, und jeder
würde wissen, wo Slowenien lag. Diese Woche war ihm in
Gestalt einer gescheiterten Selbstmörderin eine Chance vom
Himmel gefallen. Diese Chance durfte er sich um kein Geld
der Welt entgehen lassen.
Dr. Igor war zufrieden. Obwohl er aus ökonomischen
Gründen Behandlungen dulden mußte, die von der Ärzte-
schaft längst abgelehnt wurden - wie beispielsweise der
Insulinschock -, so kämpfte er in Villete, ebenfalls aus öko-
nomischen Gründen, für neue psychiatrische Behandlungs-
methoden. Erstens hatte er genug Zeit und Personal, um das
Gift zu erforschen, und zweitens duldeten - wohlgemerkt:
duldeten, nicht erlaubten es - die Besitzer, daß eine Gruppe,
die >Bruderschaft
durfte. Aus humanitären Gründen, so führten sie an, sollte
dem kürzlich geheilten Patienten gestattet werden, selbst zu
bestimmen, wann er reif war, um wieder in die Welt hin-
auszutreten. Eine Gruppe von Patienten hatte daraufhin be-
schlossen, in Villete zu bleiben wie in einem exklusiven Hotel
oder in einem Club, in dem sich Leute mit gemeinsamen
Neigungen versammeln. Dr. Igor konnte so die Verrücken
und die Gesunden zusammenleben lassen und dazu bei-
tragen, daß letztere erstere positiv beeinflußten. Damit die
Dinge nicht aus dem Ruder liefen und die Verrückten die
Geheilten wieder »ansteckten«, mußten die Mitglieder der
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>Bruderschaft
lassen.
Dr. Igor wußte, daß die von den Aktionären angeführten
humanitären Gründe, aufgrund deren die Geheilten in der
Anstalt bleiben konnten, nur ein Vorwand waren. Sie fürch-
teten, daß Sloweniens kleine charmante Hauptstadt Lju-
bljana zu wenig reiche Verrückte hergab, um diesen teuren,
modernen Betrieb aufrechtzuerhalten. Außerdem verfügte
das öffentliche Gesundheitswesen über erstklassige psychia-
trische Anstalten, die Villete Konkurrenz machten.
Als die Aktionäre die alte Kaserne in ein Krankenhaus
umwandelten, hatten sie als Zielgruppe primär die vom
Krieg mit Jugoslawien Betroffenen im Sinn gehabt. Doch
der Krieg währte nur kurz. Die Aktionäre hatten darauf
gesetzt, daß der Krieg wiederaufgenommen würde, doch das
traf nicht ein.
Jüngste Untersuchungen hatten jedoch ergeben, daß
Kriege wohl geistige Schäden hervorriefen, doch weniger als
Stress, Langeweile, Erbkrankheiten, Einsamkeit oder Lie-
beskummer. Wenn eine Gemeinschaft vor einem großen
Problem stand, beispielsweise einem Krieg, einer Hyper-
inflation oder einer Seuche, stieg die Anzahl der Selbst-
morde leicht an, während Depressionen, Paranoia und
Psychosen deutlich abnahmen. Sobald das Problem über-
wunden war, normalisierte sich alles wieder, Dr. Igor zu-
folge ein deutliches Zeichen dafür, daß Verrücktheit ein
Luxus war, den man sich nur unter bestimmten Vorausset-
zungen leisten konnte.
Er hatte eine andere kürzlich veröffentliche Untersuchung
vor Augen. Sie stammte aus Kanada, das eine ameri-
kanische Zeitung als das Land mit dem höchsten Lebens-
standard bezeichnet hatte. Dr. Igor las darin:
Dem statistischen Amt Kanadas zufolge waren psychia-
trisch behandelt worden:
40 % der Menschen zwischen 15 und 34 Jahren 33 % der
Menschen zwischen 35 und 54 Jahren 20 % der Menschen
zwischen 55 und 65 Jahren. Jeder fünfte Kanadier litt an
irgendeiner psychischen Störung.
Jeder achte Kanadier war mindestens einmal in seinem
Leben wegen Geistesstörungen in einem Krankenhaus. [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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